Aus dem MAL KURZ ist dann ‚für immer‘ geworden.
Ich wurde Anfang der sechziger Jahre geboren als vierte Tochter von insgesamt fünf Mädels. Meine Eltern hatten Landwirtschaft, Weinbau, Gästezimmer und eine örtliche Gaststätte. Viel Arbeit also.
11 Monate nach mir kam meine jüngste Schwester zur Welt. Kurz nach ihrer Geburt ...
(„Schon wieder ein Mädchen“, sagte mein Vater damals, erzählte mir meine zweitälteste Schwester nach seinem Tod. Sie und meine älteste Schwester, beide zu dieser Zeit im Grundschulalter, waren dabei, als die Mutter und die Jüngste aus dem Krankenhaus abgeholt wurden. Mein Vater fuhr vor dem Krankenhaus an, meine Mutter stand mit dem Kind und Koffer dort geschwächt an der Ausgangstür. Die beiden älteren wurden dann vom Vater aufgefordert, ihr zu helfen. Er stieg nicht aus: Es war ja nur wieder ein Mädchen und kein Hofnachfolger. Alle anderen Kinder waren Hausgeburten.)
... wurde ich „kurz“ zu Onkel und Tante gebracht, ca. 30 km entfernt, die kinderlos waren. Die beiden Männer waren Brüder, beide sehr dominant.
Ich kam dort an, erzählte mir meine Nachbarin später, ohne Ersatzkleidung, ohne Windeln, ohne alles.
Aus dem MAL KURZ ist dann ‚für immer‘ geworden.
Ich hatte es gut dort als Einzelkind, besser als meine Schwestern.
Auch wusste ich immer über die Situation Bescheid.
An Feiertagen oder Geburtstagen haben wir meine ursprüngliche Familie ca. 3-4 Mal jährlich besucht. Niemals haben mich die leiblichen Eltern in den Arm genommen und / oder gesagt „Du bist unser Kind“.
Meine jüngste Schwester dachte lange Zeit, ich sei ihre Cousine. Nur ganz selten war sie im Grundschulalter in den Sommerferien bei uns zu Besuch. Sie fühlte sich wie im Paradies: Warmen Kakao und Schwimmbad Besuche gab es bei ihr zu Hause ( bei meinen leiblichen Eltern) nicht. Dort zählte nur Arbeit und Mithelfen im elterlichen Betrieb. Drei meiner vier Schwestern sind sehr früh von zu Hause ausgezogen, die Älteste hat den Weinbaubetrieb und das Gästehaus fortgeführt, weil es von ihr verlangt und erwartet wurde. Sie hatten keine so schöne und sorgenfreie Kindheit wie ich.
Übermäßig viel Liebe, Geborgenheit und Zuwendung habe ich auch bei meinen Adoptiveltern nicht bekommen. Es war einfacher, problemloser dort, aber auch nicht das liebevolle Elternhaus, das heutzutage angestrebt wird.
Mein Onkel war ebenfalls ein Tyrann und hat meine Tante, also seine Frau, bis zu ihrem Tod drangsaliert und gedemütigt. Sie war seine Dienerin, sonst nichts. Geschlagen hat er sie auch, aber das habe ich erst kurz vor ihrem Tod wahrgenommen und erfahren. Auch hat er ihr immer die Kinderlosigkeit vorgeworfen; sie hatte eine Krankheit an den Eierstöcken. Zu seiner Verteidigung muss man sagen dass er eine nicht unerhebliche Verletzung vom 2. Weltkrieg hatte und die letzten seiner Lebensjahre fast taub und blind war. Deshalb war er sehr misstrauisch gegen alles und jeden. Im Nachhinein denke ich, er war auch psychisch krank, und in irgendeiner Art und Weise habe ich ihm auch verziehen.
Meine Tante war der liebste Mensch den man sich vorstellen kann. Nur bei ihr habe ich mich ein wenig als „ihr Kind“ gefühlt. Bevor sie starb, lag sie drei Tage im Koma. Vor ihrem letzten Atemzug hat sie sich nochmal aufgebäumt und meinen Namen gerufen. Unsere damalige Pflegehelferin aus Polen und ich waren dabei. Wenn ich an dem Grab von den beiden stehe, denke ich nur an sie, nie an ihn.
Meine zweitälteste Schwester erzählte mir im Erwachsenenalter, dass meine leibliche Mutter immer weinend hinter dem Hoftor stand, als ich mit Onkel und Tante wegfuhr. Außerdem dass mein richtiger Vater auf dem Sterbebett zu meiner zweitältesten Schwester sagte: „Ich weiß nicht, ob das damals richtig war, dass wir sie weggegeben haben“.
Die eigentliche, offizielle Adoption wurde erst kurz vor meiner Hochzeit durchgeführt, im Alter von 24 Jahren. Bei offiziellen Stellen oder Behörden wie Schule, Arzt, Gemeinde usw. ist vor der Adoption nie etwas aufgefallen oder hinterfragt worden, der Nachname war ja derselbe. Nur die älteren, ortsansässigen Leute wussten von meiner Geschichte.
Mit mir hat nie jemand über dieses Thema gesprochen, warum und wieso. Ich habe auch nicht gefragt. Erst als alle vier, Leibliche - und Adoptiveltern, gestorben waren, kam alles zum Ausbruch. Das war eine sehr schwierige Zeit für mich, aber Antworten werde ich niemals mehr bekommen.
Auch meine älteren Schwestern sagen, sie wüssten nichts über die genauen Umstände.
Mein Leben sieht jetzt so aus, dass ich ein starkes Helfersyndrom entwickelt habe. Ich möchte es allen recht machen, allen gefallen, geliebt werden, niemand verletzen, mit niemandem Streit haben. Das hat wahrscheinlich auch mit der Adoption, der Weggabe meiner Person und daraus resultierenden Verlustängsten zu tun.
Letztlich bleiben nur Fragen:
Warum ich?
Warum wurde ich nicht zurückgeholt?
Wie kann man, aus heutiger Sicht, so einfach sein Kind „verschenken“ ????
Wie sind sie selbst mit dieser Situation klar gekommen?
Sicher, das waren erschwerte Umstände und ganz andere Voraussetzungen damals.
Vielleicht hätte ich sie sogar verstanden, wenn sie es mir erklärt hätten. Irgendwann.
Aber dafür ist es jetzt zu spät.
Traurigkeit, Hilflosigkeit, Leere, Unsicherheit, Unverständnis bleiben, für immer.
Ich verdamme oder verurteile sie nicht.
Ich möchte nur Klarheit in diesem Dunkel.
Doch diese Klarheit werde ich niemals bekommen!