Der Blick
So hat mich noch kein Mensch angesehen. Nicht davor und nicht danach. Es war nicht etwa ein verliebter Blick, nein, ... aber der Reihe nach.
Es ist schon einige Jahre her, da wurde ich von einem meiner Geschwister – um es klarzustellen: „leiblichen Geschwister“ – zur Hochzeit eingeladen. Du musst wissen: Es war für mich damals noch ungewohnt, mich wieder im Kreis meiner ersten Familie zu bewegen.
Eingeladen war auch der Onkel meines mittlerweile verstorbenen ersten Vaters, extra aus Iran eingeflogen. An diesem Abend traf ich ihn zum ersten Mal in meinem Leben! Nee, stimmt nicht ganz: In den ersten fünf Jahren meines Lebens muss ich ihn oft gesehen haben, aber daran kann ich mich nicht erinnern. Alles weg!
Zurück zur Hochzeit: Mein Onkel konnte kein Englisch, geschweige denn Deutsch, und ich konnte damals kein Persisch. Aber Worte waren zwischen uns auch nicht nötig. Er blickte mich an und auch im Lauf der Feier schaute er zu mir häufiger herüber – mit einem Blick, also so etwas habe ich noch nie erlebt! Wie gesagt, nicht davor und nicht danach.
Ich kann dir sagen, dieser Blick war schwer auszuhalten. Ich war noch nicht bereit für die Botschaft dieses Blickes. Wenn dieser Blick hätte reden können, hätte er folgendes gesagt:
„Reza [mein persischer Name], wie froh bin ich, dass ich dich wiedersehe! Nach so langer Zeit. Du siehst aus wie mein Bruder! Du siehst echt aus wie Ahmad! Wie eine junge Ausgabe von Ahmad. Dass ich das noch erleben darf!“
„Reza, du bist der Sohn meines Bruders. Du gehörst zu uns. Du warst lange weg, aber du gehörst zu uns. Du bist Perser. Du bist Fleisch von meinem Fleisch und Blut von meinem Blut. Du bist einer von uns. Wir sind eins.“
Oha! Hilfe!!
Das war mir zu intim.
Das war mir zu besitzergreifend.
Ich habe, ich muss es gestehen, von meinem Onkel – er hieß übrigens auch Reza – an diesem Abend Abstand gehalten. Ich konnte seinen Blick nicht ertragen.
Zehn Jahre später war ich dann in Persien zu Besuch bei meiner ersten Familie. Jetzt wäre ich bereit gewesen für diesen Blick – und ich wäre mittlerweile sogar in der Lage gewesen, mich mit meinem Onkel unterhalten zu können. Doch leider, leider, war er mittlerweile verstorben. Wie schade!
Über „den ersten Blick“ habe ich mittlerweile etliches in der Adoptionsliteratur gelesen. Ich erwähne hier nur zwei Beispiele. Angela Long, adoptiert, schreibt über die erste Begegnung mit ihrer ersten Mutter:
„She looked at me like you’d look at a glass of water after a long day in the desert.“
(Angela Long: A Familiar Face, in: Bruce Gillespie / Lynne van Luven (Hrsgg.): Somebody’s Child. Stories about Adoption, o.O., Kanada 2011, 27-33, hier: 31.)
Wenn das nicht eine berührende Metapher ist: „wie ein Glas Wasser nach einem langen Tag in der Wüste“! Die Wirkung dieses Blicks war vergleichbar wie bei mir. Long schreibt, dass sie dieser Blick so geängstigt habe, dass sie ihren Blick weggewandt habe, gen Sternenhimmel (aha, Nacht war es auch noch!).
Jonathan Rendall, adoptiert, berichtet, wie er am Bahnhof das erste Mal seine erste Mutter traf.
„The way she was looking at me – no one had ever looked at me like that. […] Only your Mum can look at you like that.“
(Jonathan Rendall: Oedipus Descending, in: Sarah Holloway (Hrsg.): Family Wanted, London 2006, 45-48, hier: 46.)
Was für ein Blick!