Die wunderbare Geste des Adoptivvaters

20.07.2021

Ja, sie ist nicht immer leicht, die Beziehung zwischen ersten Eltern und Pflege- oder Adoptiveltern. Warum das so ist und worin sich das alles zeigt, soll uns jedoch heute nicht interessieren.

Denn ich freue mich, dir eine Geschichte zu erzählen, die zeigt, dass es auch anders gehen kann. Ich habe sie gestern gehört von einer Dame, ich nenne sie Petra, die an einem meiner Schreibseminare teilnahm.

Also: Petras erster Vater lag im Sterben. Im Krankenhaus. Und jetzt kommt ein wunderbarer Satz, gefolgt von einer wunderbaren Aktion. Ihr Adoptivvater sagte zu ihr: „Komm, wir fahren da hin.“ Und so fuhren sie denn hin. Beide. Gemeinsam. Um sich von ihrem Vater, also ihrem ersten Vater, zu verabschieden.

Wohlgemerkt, ihr Adoptivvater sagte nicht: „Fahr da ruhig hin!“ Auch das wäre schon eine liebe Geste gewesen. Keine Selbstverständlichkeit, glaub mir.

Wie viele von uns Adoptierten und Pflegekindern verabschieden sich nicht von ihren ersten Eltern! Warum? Bei der überwältigenden Mehrheit aus Loyalität gegenüber ihren Eltern, also ihren Adoptiv- oder Pflegeeltern. So war es auch bei mir. Ich wollte mit meinem ersten Vater nichts mehr zu tun haben.

Wie ich heute weiß, aus Loyalität gegenüber meinen Eltern. Ich wollte ihnen nicht weh tun. Mein Vater starb, und ich war nicht bei ihm! Das macht mich traurig! Viele Adoptierte sagen sich: „ich suche nach meinen ersten Eltern, wenn ... ja wenn meine Adoptiveltern gestorben sind.“ Doch die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die ersten Eltern dann ebenfalls tot sind.

Zurück zu Petra. Selbst wenn ihr Adoptivvater gesagt hätte, „Fahr da ruhig hin!“, hätte ihr das gutgetan. Sie wäre mit seinem Segen hingefahren. Und das wäre schon ungeheuer viel wert gewesen. Sind wir Adoptierte doch, wie gesagt, von Loyalitätskonflikten zerfressen und dankbar, den Segen unserer Eltern zu haben, wenn wir uns unseren anderen Eltern zuwenden (in beide Richtungen!).

Nein, ihr Adoptivvater sagte: „Komm, wir fahren da hin.“ Er begleitete sie. Im Persischen gibt es dafür den wunderbaren Ausdruck "denselben Weg gehen". Er machte sich eins mit ihr. Mehr Bestätigung geht nicht! Mir fehlen die Worte, um auszudrücken, wie sehr ich mich mit Petra freute, als sie mir das erzählte.

Ich bin überzeugt, nein ich weiß es, denn Petra hat es mir bestätigt: Diese Geste ihres Adoptivvaters erzeugte mehr Nähe zwischen den beiden, als alle seine sonstigen Anstrengungen und Bemühungen um seine Tochter im Laufe von rund 20 Jahren zusammengenommen. Wie schön! Wie wunderschön!

„Komm, wir fahren da hin!“

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