Die Angst der Großmutter
Sie war die resolute Oma schlechthin, erzählte mir ihre Enkelin, mittlerweile selbst eine gestandene Frau. Wie eine resolute Oma eben ist: klare Regeln, klare Ansagen, gemixt mit viel Oma-Liebe. Eine Großmutter wie aus dem Bilderbuch!
Genaugenommen war sie die Adoptiv-Großmutter. Sprich: Sie hatte die Mutter der Enkelin, welche mir die Geschichte erzählte, adoptiert.
Das wusste die Enkelin aber lange Jahre nicht. Sie wuchs auf in der Überzeugung, ihre Oma sei ihre Oma (was sie ja auch war!). Hier haben wir es wieder, das Tabu, die Vertuschung. Aber das ist dieses Mal nicht das Thema.
Als die Enkelin, sie war 16 Jahre alt, von der Adoption ihrer Mutter erfuhr – und die Großmutter erfuhr, dass sie das erfuhr (korrekt: erfahren hatte, aber das Wortspiel ist zu schön!), da wurde aus der resoluten Oma eine andere Person.
Sie war wie verwandelt. Ihre Resolutheit war verschwunden. Ihre Souveränität war weg.
„Vorher hat sie mir immer Vorschriften gemacht, was ich anziehen durfte und was nicht. Damit war von einem Tag auf den anderen Schluss,“ erzählte mir die Enkelin.
„Sie mutierte von der Oma zum Fan. Es war auf einmal alles toll, was ich machte.“
Und als kurze Zeit später die Enkelin ihrer Oma eine Geburtstagskarte schrieb und aus Versehen – sie kam aus Russland und konnte noch nicht so gut Deutsch – unterschrieb mit dem Wort „deine Nichte“, da war es um die Oma geschehen: „Da ist sie weinend vor mir zusammengebrochen,“ erzählte mir die Nichte, pardon, Enkelin.
Sie musste nicht Psychologie studiert haben, um zu erfassen, schon damals: Ihre Oma hatte Angst. Sie hatte Angst, ihre Enkelin zu verlieren.
Die Oma machte ihrer Tochter Vorwürfe, dass sie „es“ verraten hatte. Doch es war zu spät. Der Geist war aus der Flasche. Der Geist der Wahrheit, wenn du mich fragst.
Die Oma konnte nun nicht mehr die Illusion aufrechterhalten, die Illusion, ja, was für eine Illusion eigentlich? Die Illusion, die leibliche Großmutter ihrer Enkelin zu sein, nicht mehr und nicht weniger. Für die Enkelin blieb sie die Oma. Das konnte auch ich spüren, als sie mir die Geschichte erzählte. Ich konnte die Liebe spüren, die sie ihrer Oma entgegenbrachte, noch heute, egal ob leiblich oder nicht. Unkaputtbare Liebe.
Doch ihre Oma konnte das offensichtlich nicht (mehr) spüren. Ihre Antennen dafür waren blockiert. Sie konnte daher nicht erfassen, dass sich für ihre Enkelin nichts geändert hatte und nie etwas ändern würde. Sie hatte Angst.