Segne mich, auch mich, mein Vater!

Vielleicht kennst du die Geschichte von Jakob und Esau. Eigentlich müsste es heißen „die Geschichte von Esau und Jakob“. Denn Esau war der Erstgeborene. Doch Jakob wurde aktiv und betrog seinen Bruder um den Segen des Vaters für den Erstgeborenen (nachzulesen in der Bibel, 1. Mose 27). Und das zeigt sich heute noch darin, dass wir nicht den Namen Esaus, sondern den Namen Jakobs als erstes nennen!

Doch nun zur Geschichte: Als Esau von seinem Vater erfährt, dass ihn sein Bruder um den Segen betrogen hat – was macht er? Rennt er sofort wutentbrannt weg, um seinen Bruder umzubringen (was er in der Tat vorhatte: 1. Mose 27,41)? Nein, sondern ... schauen wir in den Text:

„Als Esau die Worte seines Vaters hörte, da schrie er mit lautem und erbittertem Geschrei über alle Maßen und sagte zu seinem Vater: Segne mich, auch mich, mein Vater!“
(Die Bibel, 1. Mose 27, 34, Revidierte Elberfelder Übersetzung)

(Da war was los! Ich wäre gerne dabei gewesen. Bewegender als Kino!)

Esau ist außer sich. Ihm wird bewusst, wie wichtig der Segen seines Vaters für ihn ist. „Wichtig“ ist untertrieben. Mir fehlen die Worte. „Das laute und erbitterte Geschrei“ Esaus zeigt: Für ihn geht es um alles! Um alles oder nichts!

Isaak antwortet Esau und sagt, sein Bruder habe ihm den Segen weggenommen. Tja, da ist ja nichts mehr zu machen, könnte man denken. Doch nicht Esau! Er gibt sich mit der Antwort seines Vaters nicht zufrieden. Er hakt nach. Er fragt seinen Vater:

„Hast du mir keinen Segen aufbehalten?“
(1. Mose 27,36)

Isaak antwortet ihm, dass er mit seinem Segen Jakob zum Herrn über seine Brüder gemacht habe und fragt ihn, was er noch für ihn tun könne. Was wohl?

Esau will nur eins von seinem Vater. Er will seinen Segen. Er will ihn. Er will ihn unbedingt. Und daher fragt er ein drittes Mal:

„Hast du nur diesen einen Segen, mein Vater? Segne mich, auch mich, mein Vater! Und Esau erhob seine Stimme und weinte.“
(1. Mose 27,38)

Esaus Hartnäckigkeit, sein Weinen, sein Schreien, seine Offenheit – das alles zahlt sich schließlich aus: Sein Vater segnet ihn. (1. Mose 27,39f.)

Warum ich das hier erzähle? Nun, ich will dir und mir zeigen: Der Segen ist das Größte, was ein Kind von seinem Vater bekommen kann. Und: Es lohnt sich, diesen Segen zu erbitten. Wenn es sein muss, dreimal. Mit Weinen, Heulen und Schreien.

Was ist ein Segen überhaupt? Ich vereinfache einmal (und spare mir die entsprechenden Belege). Ein Segen im alttestamentlichen Sinne, bezogen auf ein Kind (groß oder klein), besteht aus einem der folgenden vier Elemente, oft auch mehreren:

1. Benennen, wer und was das Kind ist: Eigenschaften, Charakterzüge, Taten (am liebsten mit Wohlwollen)
2. Benennen, wer und was das Kind sein wird: Perspektiven, Fallen (je positiver, desto willkommener!)
3. Gute Wünsche mit auf den Weg geben
4. Hand-Auflegen – eine Berührung, die berührt!

Durch den Segen fühlt sich ein Kind angenommen. Zugehörig. Sicher. Gerüstet für die Zukunft. Was kann es Wichtigeres geben in den Unbilden des Lebens?

Ja, aber warum ist es so wichtig, dass der Vater derjenige ist, der einen solchen Segen ausspricht? Das könnte doch auch jemand anders machen! Zum Beispiel eine gute Freundin oder ein Promi. – Na ja, zu wem im Konzertraum / in der Turnhalle / im Stadion oder einfach nur im Schwimmbad schaut das Kind, wenn es etwas vorführt? Welche Augen sucht es? Die der Eltern! Und hier wiederum noch mehr die Augen des Vaters. Gestatte mir, das hier nicht weiter zu erläutern, sondern es einfach als gegeben vorauszusetzen: Das Kind blickt zum Vater, um von ihm den Segen, die Anerkennung zu bekommen.

Ja, aber in der Pubertät und auch später, da ist ihm doch das Urteil seiner Freunde wichtiger! Da zählt das Urteil des Vaters doch gar nicht! – Vordergründig vielleicht, doch glaub mir: Das Kind will den Segen des Vaters.

Aber was ist, wenn der Vater ein Trinker ist, ein Mörder, ein Drogen-Dealer, ein Ungeheuer, der Böse in Person? – Auch dann, auch dann ist der Segen des Vaters für das Kind existentiell. Die Kraft des Segens hängt nicht ab vom moralischen Verhalten und Zustand des Vaters (welcher ja bei keinem Vater perfekt ist, wie man auch bei Isaak sehen kann).

Okay, aber was hat das Ganze zu tun mit unserem Thema „Adoption und Pflege“? – Sehr viel! Denn das Adoptivkind, das Pflegekind wird in 98,756 Prozent der Fälle (von mir geschätzt!) den Segen des ersten Vaters nicht bekommen haben. Weil es ihn nicht kennt oder keinen Kontakt zu ihm hat. Weil der erste Vater abwesend ist.

Da fehlt etwas. Da fehlt etwas Großes.

Aber das Kind hat ja vielleicht den Segen des Adoptivvaters, des Pflegevaters erhalten. – Ja, und das ist sehr schön. Es ist sogar wunderbar. Doch dieser Segen kann den des ersten Vaters nicht ersetzen.

Und das Schlimme: Das Kind hat nicht nur nicht den Segen des ersten Vaters bekommen, sondern zusätzlich eine negative Botschaft, fast schon eine Art Fluch. Denn die Botschaft des ersten Vaters, des abwesenden Vaters, an das Kind lautet: „Du bist mir nicht wichtig. Mir ist es egal, wie es dir geht und wie du zurechtkommst.“ (So kommt es jedenfalls beim Kind an.) Wenn dein eigener Vater dich nicht gewollt hat, wenn er nicht alles darangesetzt hat, die Familie zusammenzuhalten und dir ein Vater zu sein – was auf Erden kann diese negative Botschaft von der einzigen Instanz, von der man bedingungslose Annahme erwartet, ersetzen?

Das ist kein schöner Schluss, ich weiß. Aber was soll ich dir und mir anderes sagen? Der Segen des ersten Vaters – er fehlt uns, die wir adoptiert oder in Pflege gegeben wurden.

Gibt es denn gar keine Lösung? – Vielleicht! Ich würde dir gerne drei Wege skizzieren, die uns helfen könnten (und auch nicht-adoptierten Kindern, von denen viele ebenfalls nicht den Segen des Vaters erhalten haben), und zwar im nächsten Artikel.

In der Hoffnung, dass möglichst vielen Kindern, ob adoptiert oder nicht, die Bitte ihres Herzens erfüllt wird: „Segne mich, auch mich, mein Vater!“

zu Teil 2: Die Sehnsucht nach dem Segen des Vaters