Das Totschlagargument
Sie ist eine liebreizende Dame, die ich schon seit Jahren kenne und schätze. Vor einigen Jahren riet sie ihrer Tochter, die kinderlos war, ein Kind zu adoptieren. Und jetzt sprach sie mich auf mein Buch an.
Sie stellte mir einige Fragen, und so fing ich an zu erzählen. Aber schon bald merkte ich: Sie wollte von mir nichts Negatives über Adoption hören, unterbrach mich ständig. Und so kam – ich hatte schon darauf gewartet – das Argument, das ich (in unterschiedlichem Wortlaut) oft zu hören bekomme von denen, die nur die positive Seite der Adoption sehen wollen:
„Aber Ihr Fall ist ja besonders tragisch. Es gibt doch auch glückliche Adoptionen. Jede Adoption ist anders.“.
Zunächst einmal finde ich, dass mein Fall nicht besonders tragisch ist. Da habe ich von vielen anderen erfahren und gelesen, mit denen ich gewiss nicht tauschen möchte. Aber das ist nicht das Entscheidende an diesem ihrem Gegenargument.
Das Entscheidende ist, dass sie mir absprechen will, das, was ich erlebt habe, zu verallgemeinern. Und so kann sie ruhig davon weiterträumen, dass Adoption für das Kind, für ihr Enkelkind gar nicht so schlimm sei, im Gegenteil: dass es darüber sogar glücklich sein könne.
Das Tückische an diesem Argument ist übrigens, dass auch etwas Wahres daran ist: Natürlich ist jede Adoption anders. Da bin ich bei ihr. Doch das gilt nicht nur für Adoptionen, sondern für jedes Leben. Demnach könnte man nie allgemeine Aussagen treffen, übrigens über Adoptionen auch keine positiven (und es gibt einiges Positive über Adoptionen zu sagen, aber das ist hier nicht das Thema).
Nun mein Gegenargument gegen dieses Gegenargument. Ich nehme mal meinen Lieblingsvergleich: Scheidung. Ja, jede Scheidung ist anders. Das heißt aber nicht, dass es Kinder gibt, die über die Scheidung ihrer Eltern glücklich wären (Selbst wenn sie gesehen haben, dass es die Eltern nicht mehr miteinander aushalten und deswegen eine Scheidung befürworten, so sehnen sie sich doch danach, dass die Eltern sich verstehen und zusammenbleiben). Ich wage zu verallgemeinern: Kein Kind ist glücklich über die Scheidung seiner Eltern. Und entsprechend wird kein Kind wirklich glücklich sein, von seiner Mutter weggegeben worden und von seiner ersten Familie getrennt zu sein. So wie ich niemanden kenne, der sich freut, in Hundedreck zu treten oder sein Portemonnaie zu verlieren. Ich bin mal so mutig, das zu verallgemeinern.
Doch selbst wenn mich jetzt jemand widerlegen würde und es nicht eine einzige allgemein gültige Aussage über Adoption gäbe und sich tatsächlich jemand darüber freuen sollte, in Hundedreck getreten zu sein, kann ich das Gegenargument „Jede Adoption ist anders“ noch auf eine andere Weise entkräften: Ja, jede Adoption ist in bestimmten Aspekten anders, aber in bestimmten Aspekten eben auch gleich. Das heißt, es gibt bei allen Adoptionen eine Schnittmenge, mal größer, mal kleiner. Und deswegen werden Adoptierte bei anderen Adoptierten immer auf mehr Verständnis stoßen als bei Nicht-Adoptierten.
Nur deshalb funktionieren Selbsthilfegruppen so gut, ob von Krebspatienten oder Partnern von Alkoholikern oder Eltern von hochintelligenten Kindern. Alle haben einen anderen Hintergrund und sind in einer anderen Situation, aber sie haben vieles gemeinsam. Nicht alles, aber vieles, vor allem die damit verbundenen Probleme.
Warum aber wollte die nette Dame nichts Negatives über Adoption hören? Sie verriet es mir. Indirekt. Indem sie mehrfach sagte, wenn ich ihr etwas Trauriges erzählte: „Oh, nein, das tut weh.“ Oder „Nein, das ist zu hart.“ Sie wollte mit dem Schmerz des Kindes nichts zu tun haben. Er ging ihr zu nahe.
Ich habe mittlerweile kapiert, dass es sich nicht lohnt, Leute wie diese Dame überzeugen zu wollen. Verschwendete Liebesmüh. Damit ich darüber nicht mehr wütend werde (schließlich spricht sie mir indirekt die Berechtigung ab zu fühlen wie ich fühle), sage ich mir: Was ich erzähle und schreibe, ist nur ein Angebot. Wer möchte, kann sich darauf einlassen. Und wer das nicht will, der darf weiterträumen. So wie diese Dame. Sie darf nur nicht von mir erwarten, dass ich ihr noch die rosarote Brille reiche. Ich werde mich mit ihr künftig lieber über das Wetter unterhalten.