Warum ich mich umdrehte, als ich mit meiner ersten Mutter spazieren ging

03.02.2023

Ich sprach gestern mit meiner Tante. Sie erzählte mir, dass sie einmal dabei war, als meine erste Mutter, meine Geschwister und meine Oma mich zu einem Spaziergang abgeholt hatten. Da lebte ich schon einige Zeit bei meinen neuen Eltern.

„Und dann hast du dich immer umgedreht. Als wenn du sagen wolltest: ‚Komm‘ ich auch wieder?‘ Da hab‘ ich geheult. Und hab zu Gerhard [ihr Mann] gesagt: Wie schafft der Junge das?‘ – Das war unglaublich, dass du das durchgestanden hast.“

Warum habe ich mich damals umgedreht?

Ich versuche, mich in den 5-Jährigen von damals hineinzuversetzen.

„Mama, ich bin wütend auf dich! Was soll das? Warum soll ich jetzt mit dir spazieren gehen? Du willst mich doch sowieso nicht mehr! – Oder willst du mich doch? Aber ich will nicht mehr. Denn ich fühle mich bei dir nicht sicher. Selbst wenn du mich wieder bei dir aufnimmst, ich werde immer Angst haben, dass du mich wieder wegschickst.“

Ich versuche, mich weiter in den 5-Jährigen von damals hineinzuversetzen:

„Ich will nach Hause! Ich will nichts mehr mit dir zu tun haben. Es tut mir weh, mit dir und euch zusammen zu sein. Denn es erinnert mich daran, dass du mich nicht mehr willst. Meine Geschwister durften bleiben, ich nicht. Auaaa! Damit will ich nichts mehr zu tun haben. Das ist zu groß für mich. Zu schwer für mich. Ich will nach Hause und dort spielen.“

Aber ich denke, es gibt einen weiteren Grund, warum ich zurückschaute. Jetzt lasse ich den 5-Jährigen in mir zu meinen neuen Eltern sprechen:

„Keine Sorge, ich komm wieder! Ich will eigentlich gar nicht mit denen gehen. Ich mach das nur, weil ich das muss. Ich will bei euch bleiben. Bitte nehmt mir nicht übel, dass ich mit denen mitgehe. Haltet meinen Platz frei! Nicht dass ihr böse werdet und mich auch wegschickt. Ich komm wieder, wirklich!“


PS. Das Gespräch mit meiner Tante war das erste Gespräch, das ich mit ihr über meine Adoption geführt habe. Das erste Gespräch, und ich kenne sie seit 49 Jahren. Du willst wissen, warum ich nicht ihr, ja mit keinem, über „das Thema“ geredet habe? In meinem Buch „Ins neue Leben getreten“ ist ein Kapitel der Antwort auf diese Frage gewidmet. Die Überschrift lautet: „Scham“.

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