Die schönste Szene in / nach einem wunderbaren Film
Vielleicht hast du den Film „LION“ schon gesehen. Darin wird die Lebensgeschichte Saroo Brierleys erzählt. Im Alter von fünf Jahren wurde er per Zug in das 1.500 km entfernte Kalkutta verschlagen und später von einem Ehepaar in Australien (die Mutter gespielt von Nicole Kidman, auch im echten Leben Adoptivmutter) adoptiert.
Ich habe diesen Film gemeinsam mit meinem Sohn vor ein paar Jahren in einem Freiluftkino gesehen. Ein wunderbarer Film! Und ein tolles gemeinsames Erlebnis.
Die beste Szene meiner Einschätzung nach kommt nicht im Film selbst vor, sondern im Nachspann. Darin ist zu sehen, wie sich die Adoptivmutter und die erste Mutter von Saaroo das erste Mal treffen. Die beiden Mütter umarmen und herzen sich, sie weinen und sie freuen sich.
Und das Beste, das Beste ist das Gesicht von Saaroo. Wenn du einen Gesichtsausdruck für Glück sehen willst, dann musst du dir sein Gesicht in dieser Szene anschauen. Wie er sich freut! Er freut sich sowas von! Ich habe mir die Szene wieder und wieder angeschaut und mich für Saaroo gefreut und mit ihm.
Das wünscht sich wohl jeder von uns, die wir in Pflege oder als Adoptivkind aufgewachsen sind: dass sich unsere beiden Mütter von Herzen zugetan sind. Doch die Realität sieht anders aus. Meistens. Fast immer.
Ich werde ein solches Bild nicht erleben. Ich mache meinen beiden Müttern keinen Vorwurf. Ich kann sie sogar verstehen. Aber ich möchte zumindest sagen dürfen, dass ich es von Herzen bedaure, dass sie zu einer solchen Haltung und einer solchen Geste nicht fähig oder nicht willens sind. Ich akzeptiere es. Es ist, wie es ist. Aber ich bin traurig darüber. Dieses Bild werde ich nicht sehen.
Warum? Meine beiden Mütter stehen wie wohl alle in einer solchen Konstellation in Konkurrenz zueinander. Das wird von Müttern nicht gerne zugegeben, aber zum Glück wird es mittlerweile zugegeben. Und ob zugegeben oder nicht: Das Kind merkt, dass es diese Konkurrenz gibt. Ich merke, dass es diese Konkurrenz gibt. Und es zerreißt mich (mehr über diesen Loyalitätskonflikt demnächst in meinem Buch).
Warum gibt es diese Konkurrenz nicht bei Saaroos Müttern (soweit ich es beurteilen kann)? Das liegt an der ungewöhnlichen Vorgeschichte: Saaroo wurde von seiner Mutter nicht weggegeben, sondern ohne ihr Wissen verschlagen. Jahrzehnte später war sie dankbar dafür zu erfahren, dass er adoptiert wurde und dass es ihm gut ging. Sie war der Adoptivmutter von Herzen dankbar.
Und: Die Adoptivmutter konnte ihr bestens Gewissens gegenübertreten, denn es gab auch nicht den Hauch einer Anmutung, dass sie ihr den Sohn gestohlen habe (entsprechende Gewissensnöte werden in der Fachliteratur wieder und wieder geschildert, dazu ein anderes Mal mehr).
Das meine Erklärung. Wie gesagt, ob später nicht doch Konkurrenzgefühle zwischen den beiden Müttern aufkeimten, kann ich nicht beurteilen.
Was ich aber weiß: Diese Szene bleibt bestehen. Sie kann durch nichts widerrufen werden. Und so freue ich mich denn mit Saaroo. Was für ein Anblick!