Lieber Fliegerangriffen ausgesetzt als getrennt von der Mutter
Die Sicht des Kindes laut Anna Freud / Dorothy Burlingham 1/2
Zu reißerisch, diese Überschrift? Nun, Anna Freud und Dorothy Burlingham wären mit ihr einverstanden.
Kein Wunder, denn das ist es, was die beiden Psychoanalystinnen wahrgenommen haben*, als sie Kinder betreuten, die im 2. Weltkrieg während der Bombardierung Londons evakuiert wurden. Evakuiert heißt: weg von ihren Eltern und hin in die „Hampstead Nurseries“, ein Heim, das von Freud – ja, der Tochter von Sigmund Freud – und Burlingham geführt wurde.
Was besser war
Wie war die Situation für die Kinder? Ich fasse mal die von Freud / Burlingham genannten Punkte zusammen.
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vorher: Todesgefahr durch Fliegerangriffe **
nachher: Sicherheit
vorher: „unhygienische Schlaf- und Lebensbedingungen“
nachher: alles hygienischer
vorher: „Infektionsherde der großen Luftschutzräume“
nachher: „reine Landluft“
vorher: stundenlanges Anstehen vor den U-Bahnstationen
nachher: geordneter Tagesablauf
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Meine Einschätzung: Dieses „vorher“, das war wirklich furchtbar. FURCHTBAR! Das mag man niemandem zumuten, am allerwenigsten Kindern.
In den Hampstead Nurseries, dem von Freud und Burlingham geführten Heim, hatten die Kinder mit all dem nichts mehr zu tun. Wunderbar, oder?
Wie es die Kinder empfunden haben
Eigentlich ja, wenn da nicht der klitzekleine Umstand gewesen wäre, dass sie von ihren Eltern getrennt waren. Doch dieser klitzekleine Umstand wog schwer. So schwer, dass Freud / Burlingham ihre Erfahrungen mit den Kindern folgendermaßen zusammenfassten:
„Es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass alle diese Vorteile den Schock der Trennung des Kindes von seiner Familie nicht aufwiegen können.“
Nein, das ist nicht leicht zu akzeptieren, aber es ist so. Die Belege im Einzelnen findest du im entsprechenden Bericht von Freud / Burlington (siehe unten).
Es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass es Pflege- und Adoptivkinder in ihrer neuen Familie „besser“ haben (was immer das heißen mag), aber dennoch lieber bei ihrer ersten Mutter geblieben wären. Es ist nicht leicht zu akzeptieren, dass sie traurig sind, obwohl sie doch eigentlich dankbar sein müssten (wie die Erwachsenen und die Gesellschaft überhaupt meinen).
Achtung! Damit ich nicht missverstanden werde. Damit will ich nicht sagen (und ich denke, Freud / Burlingham ebenfalls nicht), dass die Kinder in London hätten bleiben und den Fliegerangriffen weiter ausgesetzt werden sollen. Auch nicht, dass Kinder gestern, heute und morgen nicht in Pflege kommen oder adoptiert werden dürfen. Leider, leider ist dies oft nötig (nicht zu verwechseln mit „immer nötig“).
Warum es nicht leicht zu akzeptieren ist
Doch ich störe mich an diesem „Es ist nicht leicht zu akzeptieren“. Wobei ich ja sogar verstehe, dass es nicht leicht zu akzeptieren ist. Ursächlich dafür sind meiner Einschätzung nach drei Haltungen.
Die erste ist die sachlich-logische, welche die Gefühle ausblendet: „Das Kind hat es doch so viel besser, was stellt es sich denn noch an? Und wenn, das bringt doch sowieso nichts.“
Die zweite ist die emotionale-selbstbezogene: „Mir ist bewusst, wie schwer es das Kind hat, aber es überfordert mich, mich dahineinzufühlen. Ich habe Angst, dass ich davon überwältigt werde.“
Und die dritte ist die schuldbewusste (ein Gefühl, das wie alle Gefühle nicht den Tatsachen entsprechen muss): „Ich habe ein schlechtes Gewissen, dass ich daran beteiligt bin, dass es dazu gekommen ist, und will nicht ansehen und fühlen müssen, was das für das Kind wirklich bedeutet.“
Wofür ich kämpfe
Also, ich verstehe es, aber ich will mich mit dem „Es ist nicht leicht zu akzeptieren“ nicht zufrieden geben. Ich will dafür kämpfen, ich will einen Beitrag dazu leisten, dass uns Adoptierten und Pflegekindern das Recht auf Trauer und Sehnsucht nach unserer ersten Familie zugestanden wird.
Nein, es ist nicht leicht zu akzeptieren, aber: Die Erwachsenen machen das Leid des Kindes nur noch größer, wenn sie seine Traurigkeit nicht akzeptieren. Dass das Kind von seiner ersten Familie getrennt ist, ist schon schlimm genug. Aber darüber nicht traurig sein zu dürfen, das finde ich noch schlimmer.
Doch wenn die Erwachsenen die Traurigkeit des Kindes akzeptieren, dann kann das Kind diese Traurigkeit leichter verarbeiten und überwinden.
Warum die Kinder so fühlen wie sie fühlen
PS. Ich merke gerade, dass ich gar nicht darauf eingegangen bin, warum die Trennung von der Mutter so schwer wiegt. Schwerer als alles andere. Darüber könnte man ein Buch, ja sogar mehrere Bücher schreiben (wie zum Beispiel John Bowlby es getan hat).
Ich formuliere es einmal so: Lieber mit der Mutter in der Scheiße als im Schlaraffenland ohne Mutter. Lieber mit der Mutter in Unsicherheit als in Sicherheit ohne Mutter. Denn für das Kind ist Mutter = Sicherheit. Und = Schlaraffenland. (Das stimmt leider nicht immer, aber mehr dazu in Teil 2.)
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* Anna Freud / Dorothy Burlingham: Kriegskinder, in: Dies.: Heimatlose Kinder. Zur Anwendung psychoanalytischen Wissens auf die Kindererziehung, (Erstausgabe in deutscher Sprache, London 1949) Frankfurt 1971, 1-61, hier: 35; Nachdruck: Kriegskinder. 12. Bericht . Januar 1941 (Zusammenfassung über die Arbeit des ersten Jahres), in: Anna Freud in Zusammenarbeit mit Dorothy Burlingham: Kriegskinder. Berichte aus den Kriegskinderheimen »Hampstead Nurseries« 1941 und 1942 (Die Schriften der Anna Freud. 2. 1939–1945), München 1980, 496-561, hier: 528.
** Damit das klar ist: Die Kinder wussten die Gefahr sehr wohl einzuschätzen, wie Freud / Burlingham betonen: „Kinder, die während des Bombardements älter als zwei Jahre waren, verstehen fast ausnahmslos, was ein Fliegerangriff bedeutet. [...] Sie wissen, dass gebombte Häuser zusammenfallen und dass Menschen unter ihnen verschüttet und getötet werden können.“ (Ebenda, 17 bzw. 507)