Lieber eine schlechte Mutter als eine gute Betreuungsperson

Die Sicht des Kindes laut Anna Freud / Dorothy Burlingham 2/2

13.07.2021

Heute der zweite und letzte (und kürzere!) Teil meiner phänomenal langen (!) Serie „Die Sicht des Kindes laut Anna Freud / Dorothy Burlingham“. Falls ich dich nicht schon mit Teil 1 und der These „Lieber Fliegerangriffen ausgesetzt als getrennt von der Mutter“ genug geschockt habe, dann gelingt es mir vielleicht dieses Mal.

Wohlgemerkt, es geht nicht um meine Einschätzung, sondern die Wahrnehmung der beiden Psychoanalystinnen, welche Kinder betreuten, die von der Bombardierung Londons evakuiert waren, deshalb aber längere Zeit ohne ihre Eltern leben mussten. Freud / Burlingham schreiben nämlich über den Schock der Kinder, von der Mutter getrennt zu sein, folgendes*:

„Die Reaktion der Kinder ist noch schwerer verständlich, wenn man bedenkt, dass viele der in Betracht kommenden Mütter weit davon entfernt sind, ideale Mütter zu sein.“

(35 bzw. 528)

Na ja, was heißt schon „weit davon entfernt sind, ideale Mütter zu sein“? Vielleicht waren sie nicht ideal, aber immerhin gut. Oder zumindest befriedigend = Schulnote 3. Oder wenigsten ausreichend = Schulnote 4.

Nein, die beiden Autorinnen führen das eine Seite später weiter aus mit einer Aussage, wo ich von „katastrophal = Schulnote 6“ reden würde:

„Die Erfahrung zeigt, dass kleine Kinder sich auch an Mütter klammern, von denen sie schlecht, ja sogar grausam behandelt werden.“

(35 bzw. 529)

Das ist ja verrückt, oder? Es ist aber so! Also, um mich zu wiederholen (siehe letzter Artikel): Ich meine nicht, dass Kinder bei grausamen Müttern bleiben sollen. Aber das heißt noch lange nicht, dass das Kind nicht dennoch Sehnsucht und Heimweh nach dieser seiner grausamen Mutter verspürt. Und da das jetzt ein doppeltes „nicht“ war, hier nochmals einfacher formuliert:

Ein Kind sehnt sich auch dann noch nach seiner Mutter, wenn es von ihr grausam behandelt wurde. Das mag nicht rational sein, und ein Nicht-Beteiligter mag darüber den Kopf schütteln, aber es ist so. Und ich bitte dich und mich, dieses Gefühl des Kindes zu respektieren. Es darf auch in diesem Fall traurig sein und sich nach seiner Mutter sehnen. Nochmals: Damit ist nicht gesagt, dass Kinder bei grausamen Müttern verbleiben sollen. Aber es darf sich nach seiner Mutter sehnen. Es darf sich nach ihr sehnen!

 

 

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* Anna Freud / Dorothy Burlingham: Kriegskinder, in: Dies.: Heimatlose Kinder. Zur Anwendung psychoanalytischen Wissens auf die Kindererziehung, (Erstausgabe in deutscher Sprache, London 1949) Frankfurt 1971, 1-61, hier: 35; Nachdruck: Kriegskinder. 12. Bericht . Januar 1941 (Zusammenfassung über die Arbeit des ersten Jahres), in: Anna Freud in Zusammenarbeit mit Dorothy Burlingham: Kriegskinder. Berichte aus den Kriegskinderheimen »Hampstead Nurseries« 1941 und 1942 (Die Schriften der Anna Freud. 2. 1939–1945), München 1980, 496-561, hier: 528 bzw. 529.

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